Wokeness, Sittenpolizei und Cancel Culture

Was darf man heute noch sagen, um nicht in den Sog der Cancel Culture einer übergriffigen Moralelite zu geraten?

Es ist erstaunlich: Vor einigen Jahren wären meine politischen und gesellschaftlichen Positionen als beinahe linksradikal-staatszersetzend durchgegangen. Inzwischen – und das bei unveränderter Weltsicht – gehöre ich in den Augen mancher zu den ewiggestrigen, jungen weißen Männern.

Wie kam es dazu? Vielleicht liegt es an meiner kritischen Haltung gegenüber falsch verstandener Wokeness, die durch Diskriminierung versucht, Diskriminierung zu verhindern… wer weiß?!

Das grundsätzliche Problem liegt nämlich definitiv nicht in der höheren Sensibilität, mit der heute Themen wie Rassismus, sexuelle Übergriffe und soziale Ungerechtigkeiten behandelt werden. Sondern schlicht darin, dass diejenigen mit dem größten Empörungspotential sich einbilden, auf diese Weise eine Meinungshoheit zu erhaschen.

Rechthaberei und überbordende Moral

Falsch verstandene Wokeness, die einzig und allein dazu bestimmt ist, abweichende Meinungen zu unterdrücken, hat in einer modernen Gesellschaft keinen Platz. Sie verrät ihre eigenen Ideale an ein freiheitliches Weltbild.

„Wokeness“ war mal kein Schimpfwort. Ganz im Gegenteil. Es ging um nicht weniger als die Aufhebung der Unterdrückung von Minderheiten mit dem Ziel, eine Gleichbehandlung für alle zu erreichen. Und dieser Krieg ist angesichts der derzeitigen Weltlage keinesfalls gewonnen. Wir sollten deshalb an einem Strang ziehen. Sollten…

Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Die „LGBTQIA+“-Bewegung

Aussehen, Herkunft und sozialer Status lösen schon seit geraumer Zeit kein stigmatisierendes Schubladendenken in der Gesellschaft mehr aus. Dank LGBTQIA+ spielt inzwischen auch die sexuelle Orientierung keine Rolle mehr: Jeder darf das sein, was er/sie/es gerne sein möchte.

Für mich war und ist das immer normal gewesen. Für viele andere nicht. Nun kommt die Kehrtwende und Sexualität wird demokratisiert. Das ist gut. Hurra!

Weniger gut hingegen sind die diversen Auswüchse wie eine erzwungene gendergerechte Sprache (die aber weder Sinn macht, noch zielführend ist, siehe mein Standpunkt als Texter hier). Sie mit brachialer Gewalt durchzusetzen, läuft der Sache zuwider – scheint aber von manch woker/m/es Hardliner*in:es genau so gewollt zu sein.

Welche Denke ist heute noch erlaubt?

Aber… darf ich als Unterstützer der Diversität geschlechtlicher und sexueller Identitäten diese Kritik überhaupt äußern? Bin ich dann nicht ein Abweichler, ein privilegierter weißer Mann, ein Soziopath, am Ende gar ein Rassist?!

Wissen Sie was? Ich bin gerne der (dunkelbraun-rötlich) blonde, blauäugige Germane – was soll’s? Wer mich wegen der Mehrdeutigkeit darin so nennt, darf das tun. Ich finde es witzig – und antworte mit einem passenden Spruch. Fertig. Wir brauchen einfach mehr Humor!

Wann hört es wieder auf, wegen falsch verstandener Political Correctness uns und anderen ein Denk- und Redeverbot aufzuerlegen? Am Ende droht nämlich gar ein Ess-Verbot – und das schmeckt mir überhaupt nicht!

Und wie positionieren sich die Medien?

Medien prangern gerne den Verfall des öffentlichen Diskurses durch eine übermäßige Moralisierung an. Nur, um dann selbst vermeintlich Andersdenkende publikumswirksam abzustrafen.

All diese Willfährigkeit für ein paar billige Klicks und mehr Werbeeinblendungen? Nicht nur.

Offenbar fürchten inzwischen selbst einige etablierte Verlagshäuser die Wucht vorgeblicher Sittenwächter und halten sich mit kontroversen Standpunkten zurück. Hatten wir diese Art des vorauseilenden Meinungsgehorsams nicht schon viel zu oft in der Geschichte?

Dabei ist eine vielfältige Medienlandschaft für eine offene und freie Gesellschaft unverzichtbar. Sie dient als Gegenpol zur Cancel Culture einzelner Gruppen und fungiert als essentielles soziales Korrektiv. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass dieses erhalten bleibt.

Welche Konsequenzen ziehe ich daraus?

Ehrlich gesagt: Gar keine!

Ich werde weiterhin sagen und schreiben, was ich denke und was meinem faktenbasierten Weltbild entspricht. Auch die Versuche mancher, eine Cancel Culture zu etablieren, werden mich unbeeindruckt lassen.

Und ich setze mich weiter dafür ein, dass die Freiheit des Einzelnen über allem steht und wissenschaftliche Erkenntnisse im politischen wie gesellschaftlichen Handeln das Maß der Dinge sind.

Glücklicherweise kann ich mir diese, meine eigene Meinung leisten und habe auch sonst ein dickes Fell, wenn es um Anfeindungen geht. Früher brauchte ich das, um christlich-konservativ geprägte Ideologiemauern einzureißen. Heute ist es offenbar notwendig gegenüber denjenigen, die scheinbar an meiner Seite kämpfen.


Autor: Tobias Eichner | Datum der Veröffentlichung: Oktober 2024